
Im ersten Moment wirkt dieses kleine Andachtsbildchen (8,5 x 5,5 cm) nur ein wenig, doch, umso länger man es betrachtet, immer befremdlicher. Es ist ein Ecce Homo-Motiv, wie uns die Schrift am Rande wissen lässt. Jesus also, der von Pontius Pilatus dem Volk vorgeführt wird. Der römische Statthalter von Jerusalem tat dies laut dem Johannesevangelium, um den geschundenen Leib als Argument dafür zu präsentieren, dass keine weiteren Strafen mehr vonnöten seien. Unser Andachtsbildchen zeigt nicht den ganzen Körper. Nur die stark stilisierten, befremdlich regelmäßigen Schweißtropfen im Schulterbereich des Portraits verweisen auf das körperliche Leiden. Am linken Bildrand sieht man ein von Jesus gehaltenes Bambusrohr: Dies ist das lästerliche Zepter, das ihm im Haus der Kaiphas in die Hand gedrückt wird, ebenso wie die Dornenkrone auf sein Haupt. Doch hier beginnt das Befremden: Unser Dornengekrönter scheint ganz und gar nicht gebrochen, denn … er streckt uns die Zunge heraus. Erst auf einen zweiten Blick erkennt man, dass diese Zunge mit einem Dorn durchstochen ist. Das Blecken gehorcht also der Ecce Homo-Motivation der Zurschaustellung von am Vorabend erfahrener Torturen. Doch wer hat wo die Zunge Jesu mit einem Zacken seiner lästerlichen Krone gepierct? Biblisch ist das schon mal nicht.
Ein oberflächliches Netzsurfen führte mich über die Begriffe ›Jesus‹ und ›durchstochene Zunge‹ auf die Fünfzehn Geheimen Leiden und eine offenbar noch immer praktizierte und auf der Homepage der Zeugen der Wahrheit erläuterte Frömmigkeitspraxis. Ein eher unfreiwilliger, reflexartiger Blick über die Seite zeigt Spuren einer bibelstellenbrünstigen Homophobie samt Anleitungen zu einem »mentalen Immunsystem«, das in Covid-Zeiten gegen die »düsteren Machenschaften der WHO« eingerichtet wurde. Dies sollte jeder und jedem einen ausreichenden Eindruck von der Tendenz der selbsternannten ›Wahrheitszeugen‹ liefern, um alles Weitere mit dem gehörigen Abstand zu lesen.

Zu den Geheimen Leiden findet man dort fünfzehn moderne Zeichnungen: bunt, brutal, kitschig und mit einer sadistisch anmutenden Gewaltexplikation. Man kann hier sehen, wie Jesus unter anderem Kellerstiegen hinuntergestoßen, mit Steinen beworfen, partiell gehäutet, mit Waffen, Spießen und Nägeln durchbohrt, gebrandet und (um einen weiteren Klassiker der torture porn-Ästhetik hinzuzunehmen) Unflat in den Mund gefüllt bekommt. Und eben auch, als dreizehnte Strafe, wie es der devot kapitalisierende Text neben dem Bildchen wissen lässt: »Traten sie Mir auf das Haupt, einer stand mit dem Fuß auf Meiner Brust und stach Mir einen Dorn von Meiner Krone durch die Zunge«.
Auch wenn alles an dieser Seite hochgradig abstoßend wirkt (dass die Foltern auch als Video zu genießen sind, macht es nicht besser), sind wir in diesem BDSM-Keller katholischer Frömmigkeit also anscheinend auf der richtigen Spur.
Magdalena. Oder: Die Macht der Selbstverletzung
Die von den ›Wahrheitszeugen‹ ins Neuhochdeutsche übertragenen Worte gehen auf eine Vision der Magdalena Beutler (auch Magdalena von Freiburg oder von Kenzingen) zurück. Diese war im 15. Jahrhundert (1407−1458) eine christliche Mystikerin im Freiburger Klarissenkloster St. Klara. Und ihre Geschichte (festgehalten im so genannten Magdalenenbuch und anderen Viten) ist ein Stoff … der in einem modernen Menschen viele, viele Fragen auf- und ebenfalls ein recht düsteres Licht auf unser Andachtsbildchen wirft.
Schon Magdalenas Mutter, Margaretha von Kenzingen, war eine Visionärin, hatte regelmäßige mystische Gnadenerlebnisse und Ekstasen. Von Magdalenas Geburt bekam sie nichts mit, da sie sich während des Gebärens in einem Zustand religiöser Verzückung befand. Magdalenas Kindheit wird als äußerst einsam beschrieben: Ihre Mutter verfiel nach dem Tod des Gatten einem religiösen Eifer und vernachlässigte das Kind enorm. Schon im Kleinkindalter soll Magdalena die Passion Christi nachgespielt und erste himmlische Erscheinungen gehabt haben. Es wird angenommen, dass die nun immer häufiger folgenden Visionen ein Versuch des Kindes waren, die Aufmerksamkeit der Mutter zu erlangen. Eine Vita berichtet sogar, dass Magdalena als Kind aufgrund von Vernachlässigung gestorben sei und erst die Gebete der Mutter sie wiederbelebt hätten.
Heute wäre das Ganze wohl eher ein Fall fürs Jugendamt – im Spätmittelalter einer fürs Kloster. Schon mit fünf Jahren gab die Mutter Magdalena zu den Freiburger Klarissen; Margaretha selbst ging in das reformierte Dominikanerkloster Unterlinden (Kolmar). Es wird davon ausgegangen, dass Tochter und Mutter weiterhin in Kontakt standen; einmal versuchte die Mutter auch vergebens, Magdalena wieder zu sich zu nehmen.
Schon als kindliche Klarissin übte Magdalena sich in heftigen Bußpraktiken: Essensentzug, geplantes Dürsten über Tage hinweg, ein mit stechendem Draht durchzogenes Gewand, Selbstgeißelungen oder Gehen mit Nägeln und Steinen in den Schuhen. Als Belohnung erhielt sie regelmäßige Offenbarungen. Das alles war so heftig, dass ihre Mitschwestern Magdalena, als sie mit zwölf Jahren erkrankte, zur Mäßigung aufforderten. Doch erst – so eine der Viten − als Christus erscheint und ihr den Brief einer Klausnerin mit dieser Forderung übergibt, mäßigt das Mädchen ihre selbstzerstörerischen Praktiken. Als aufgeklärter Mensch wittert man hier einen geschickten Trick der Mitschwestern, um das religiös eifernde Kind vor sich selbst zu schützen − und so über die Pubertät hinaus zu retten.
Im Herbst 1429, ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, inszenierte Magdalena ihre eigene Entrückung. Für drei Tage verschwand sie spurlos aus dem Kloster. Jedoch fiel in den Chor ein mit Blut geschriebener Brief, der erklärte, dass Magdalena erst zurückkehren werde, wenn alle Schwestern einer von ihr geforderten Armutsreform zustimmen würden. Da Magdalena nicht gefunden werden konnte und die Klarissinnen Angst um die sich selbst verletzende junge Frau überkam, stimmten sie der Reform zu. Am nächsten Tag wurde Magdalena im leblosen Zustand im Chor aufgefunden. Als sie aus ihrem Scheintod erwachte, wurde drei Tage lang geschwiegen – und sodann die Reform umgesetzt.
War diese erste Inszenierung ein ziemlicher Erfolg, so führte die darauffolgende zum Ende von Magdalenas Status einer lebenden Heiligen in St. Klara. Abermals stand der Einfluss der Mutter am Anfang: Margaretha war es in Kolmar gelungen, ihren eigenen Tod vorauszusagen. Ihre Tochter strebte ihr auch in diesem Akt nach: Ende 1430 kündigte sie ihren Tod am Dreikönigstag des darauffolgenden Jahres an. Die Nachricht wurde verbreitet und eine Vielzahl von Zeugen geladen – unter anderem auch ein Arzt, der Magdalenas Lebensfunktionen kontrollieren sollte. Doch trotz schwerer Krankheit, radikalen Essensverweigerungen, abermals extremen Bußübungen und stundenlangem Verharren in Gebetspose trat der prophezeite Tod nicht ein. Die Nachrichten über dieses visionäre Fiasko fielen unterschiedlich aus: Gutmeinende, wie die Schreiberinnen der Viten, sahen darin eine Weisung an Magdalena, dass sie auf Erden noch gebraucht werde; doch ebenso wurde sie als falsche Prophetin und Ketzerin bezeichnet.
Es waren jedoch nicht nur Magdalenas Zeitgenossen, die unsanft mit ihr umgingen. Auch die mediävistische Forschung zitiert noch bis in die 1980er-Jahre hinein eine Einschätzung Wilhelm Schleußner aus dem Jahr 1907, Magdalena sei eine ›Hysteria‹ gewesen. Dabei war in den 1980ern schon bekannt, dass der Begriff ›Hysterie‹ weniger ein konkretes Krankheitsbild beschrieb, als vielmehr dem Fin de Siècle-Patriarchat dazu gedient hatte, Frauen mit devianten Verhaltensweisen in die moderne Alternative zum Kloster zu schicken − in die Nervenheilanstalt. Dennoch hielt sich das Urteil über Magdalena beinahe ungebrochen; erst gegenwärtige Forschung beginnt mit einer Neubewertung. Den mit freudianischem Chauvinismus wertenden Kollegen der vergangenen Generation möchte ich zustehen: Magdalena hatte zweifelsfrei ein ungesundes Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Mutter, das zu narzisstischen, vielleicht aber auch einfach lebenserhaltenden Aufmerksamkeitsforderungen durch ›Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten‹ führte. Auch könnte man Magdalenas Agieren als Reformerin als eine histrionische Persönlichkeitsstörung auf Basis angedrohter oder verwirklichter Selbstverletzung deuten – vorausgesetzt, dass man die Reformerin überhaupt pathologisieren will. Denn schließlich gelang Magdalena die geplante Machtausübung. Ein autobiographisches Gedicht von ihr lautet:
Mancher sagt, ich si voellig wahnsinnig.
Mancher sagt, mine seele si rein.
Do verbrenn ich mit feuer ganz innig:
Ich verdiene den heiligenschein.
Min dasein istn einziges wunder,
gekroenet vom tot soll es sein.
Wird ich heiliggesroch ohne schunder,
rihten mir einen festtag sie ein.
Schreibt so eine Kranke, die sich nicht zu helfen weiß? Wohl kaum. Eher spricht hier – ganz und gar unmystisch – die gewitzte Strategin. Die Verse zeugen von einem berechnenden Stolz Magdalenas darüber, dass ihre selbstverletzenden Inszenierungen Früchte tragen. Dass ihr, wo die Aufmerksamkeit der Mutter nicht mehr zu erlangen war, doch zumindest die Aufmerksamkeit Freiburgs, ja vielleicht sogar Roms gewiss sei. Ein Stolz also, der dann erst durch die missglückte Inszenierung ihres Todes gebrochen werden sollte.
Händewaschen. Oder: Das endlose Scheitern des Pontius Pilatus
Magdalena war bei Weitem nicht die erste Visionärin, der Geheimen Leiden offenbart wurden. Die Vorstellung, dass die Evangelien nicht von allen Qualen berichten, die Jesus erlitten hat, finden sich schon in der Theologie des 11./12. Jahrhunderts. Seit dem 13. Jahrhundert wird die kanonisierte Passion energisch erweitert. Vor allem in der (nieder-)deutschen Volkssprache dient dem Spätmittelalter die Nacht im Haus des Kaiphas dazu, neue Qualen zu erfinden. Jedoch haben diese anderen, meist anonymen Schilderungen nicht den gleichen Effekt wie Magdalenas Fünfzehn Leiden. Ihnen fehlen zwei wichtige immersive Elemente: einerseits die noch heute beeindruckend schmerzhafte Formulierung von Jesus Leiden aus der Sicht des Gefolterten und andererseits ein Image der exzessiven Selbstverletzerin, wie es die Mystikerin Magdalena genoss. Aufgrund ihrer (ich möchte anachronistisch sagen:) Abramovic-Selbstaufgabe übertragen sich die in der Vision gesehenen Explikationen der Leiden Jesu auf Magdalena und ihr (machtpolitisch) inszeniertes Erdulden.
Gewissermaßen hat Magdalena mit ihren Schauerbildern aus dem Keller des Kaiphas dann auch mehr Erfolg als mit ihrem ansonsten eher marginalisierten Nachwirken – vor allem in Form einer Renaissance der Fünfzehn Leiden in der seriell reproduzierbaren compassio von Andachtsbildchen. Über diese konnte (wie hier, bei unserer Nr. 13: ›Zungenpiercing-Jesus‹) der Sammeleifer moderner Frömmigkeit befriedigt werden – falls einem die biblische Passion noch nicht blutig genug war.
Als durch und durch unfrommer Mensch muss ich mich angesichts dieses Sammeleifers jedoch abschließend fragen: Wer will die Ganzheit der Leiden überhaupt erfahren bzw. die Serie der Jesus-Foltern komplettieren? Pontius Pilatus präsentierte den geschundenen Jesus und äußerte sein ›Ecce Homo‹, um weitere Foltern von diesem abzuwenden. Er scheiterte im historischen Jerusalem, und es kam zur Passion − und in letzter Linie zur blutigen Geschichte des Christentums. Doch er scheitert abermals, wenn einer Klarisse, die Selbstverletzungen im großen Stil inszeniert, die Offenbarung von fünfzehn weiteren Leiden zugeschrieben wird. Nochmals scheitert Pontius Pilatus, wenn dieses Leiden einen Sammeleifer erweckt, der die masochistische Teilhabe der Klarissin in sadistische Schaulust wandelt. Und wie stark Pontius Pilatus dann schließlich scheitert, wenn Covid-gegnerische Frömmigkeitsbewegungen unserer Gegenwart sich bei diesen Limited Edition-Leiden bedienen, mag ich gar nicht weiter überdenken. Stattdessen gehe ich mir lieber die Hände waschen.
[Dieser Essay ist die Kurzform eines wissenschaftlichen Artikels, der samt Belegstellen an einem anderen Ort publiziert werden wird.]
Ausstellungseröffnung
Thomas Kühtreiber, Matthias Däumer und Peter Färberböck waren konzeptuell und kuratorisch an einer Sonderausstellung beteiligt, die ab dem 15. März im museumkrems zu sehen ist:
„Wie im Himmel, so auf Erden. Wie auf Erden, so im Himmel“
In sieben Stationen werden religiöse Praktiken in einem Dialog zwischen historischen Objekten aus den Sammlungen des Museums und zeitgenössischer Kunst von Assunta Abdel Azim Mohamed, Florian Nährer und Karin Frank gezeigt. Die Besucher*innen werden eingeladen, sich ganz persönlich damit auseinanderzusetzen und ihre eigene Interpretation von Religiosität zu finden.
Es wird erfahrbar gemacht, wie Objekte als Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits instrumentalisiert wurden und werden – von kontemplativer Anbetung der Heiligenbilder bis zur fetischhaften Verehrung von Sammelobjekten. Die Ausstellung zeigt, wie Menschen seit Jahrhunderten versuchen, das Unfassbare greifbar zu machen.
Bei der Vorbereitung haben die Kuratoren sich teilweise auch vom Zufall leiten lassen. So wurde manch eine bisher unbeachtete Kostbarkeit im Museumsdepot entdeckt und ins Zentrum der teils auch recht experimentellen Präsentationen gesetzt. Lassen Sie sich überraschen.
„Wie im Himmel, so auf Erden. Wie auf Erden, so im Himmel.“
Konzept: museumkrems, in Kooperation mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (IMAREAL)
Eröffnung am Samstag, 15. März 2025, um 11:00 Uhr
Zu sehen von 16. März bis 16. November 2025
Termine von Führungen werden noch bekanntgegeben und/oder in Absprache vereinbart.
