Die Frage nach der Rolle von Material und Materialität an kulturellen Phänomenen gehört zu den zentralen Interessen am IMAREAL; dies drückt sich nicht zuletzt in der Forschungsperspektive „Materialities – Material ties“ aus, in der das Material im Zentrum der Überlegungen steht. Denn der Umgang mit Materialien wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst: von den unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Materialeigenschaften bis hin zu den Bedeutungszuschreibungen an Materialien.
Um der Bedeutung des Materials für die Materielle Kultur auch interdisziplinär näher zu kommen, wurde am IMAREAL ein Ansatz entwickelt, mit dem die Relevanz der jeweiligen materialbezogenen Eigenschaften und Zuschreibungen für die kulturellen Dynamiken gezielt herausgearbeitet werden kann. Im Zentrum der gemeinsamen Überlegungen stand, welchen Anteil Materie und Material an den produktiven und praxeologischen Prozessen innerhalb kultureller Systeme haben. [Mehr dazu in der MEMO #10]
Doch welche Rolle spielt dabei das Virtuelle? Und wie kann das Virtuelle überhaupt gefasst werden?
Wir verstehen unter dem Begriff der Virtualität ein Potential bzw. ‚Vermögen‘ (eine ‚dynamis‚), das zwar nicht zur Tat (also zur ‚energia‹) kommt ‒ aber dennoch Auswirkungen auf die Realität hat. Das Virtuelle ist nicht physisch vorhanden, aber durchaus real ›wirkend‹ (im doppelten Wortsinn von ›erscheinend‹ und ‘bewirkend‘). Es ist nicht materiell, aber dennoch real ‒ und unterscheidet sich damit von der Fiktion. Real wirkt das Virtuelle, weil es als Potenzial auf seine Aktualisierung verweist und eben in diesem Verweis ‚wirkt‘. Dabei gilt es zu klären, welche Funktion das Materielle genau in der jeweiligen Aktualisierung hat.
Der aktuelle Ansatz „Sensing Materiality and Virtuality“, dem wir uns im Rahmen einer Forschungsperspektive am IMAREAL seit einiger Zeit verpflichtet haben, nimmt das Spannungsverhältnis von Materialität und Virtualität in den Blick. Besonders interessiert uns dabei die Rolle der Sinne und wie diese in Virtualisierungs- und Materialisierungsszenarien und -strategien aktiviert werden. Wir gehen davon aus, dass Virtualität grundsätzlich ohne Materialität nicht denkbar ist, sondern jegliches Denken auf der Voraussetzung der Körperlichkeit des Menschen beruht. So ist Virtualität an materiellen Strukturen orientiert aber auch Vorgängen von Ent- und Rematerialisierungen unterworfen. Gleichzeitig sind Verarbeitung und Einordnung von Sinneseindrücken nicht möglich ohne Einbeziehung von Vorstellungen und Assoziationen aus dem virtuellen Bereich, wie auch der Umgang und die Gestaltung der physischen Umwelt maßgeblich von virtuellen Weltbildern geprägt wird.
Das Sensing, d.h. die sensuelle Aufnahme und sinnhafte Einordnung, möchten wir als zentralen Aspektivierungsvorgang beschreiben. Der Körper bildet dabei eine zentrale Schnittstelle in beide Richtungen, in der virtuell Verfügbares in konkreten Aktualisierungen verkörpert wird und umgekehrt.
Diesen Bezugssystemen zwischen Materialität und Virtualität in vormodernen Vorstellungswelten gehen wir aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln nach, und konkretisieren sie in verschiedenen Teilprojekten. Besonders interessieren uns dabei die sinnlichen Erfahrungen von Materialität und Virtualität: visuelle, auditive oder haptische Erfahrungen stehen im Zentrum unserer Projekte, von denen einige auch im Rahmen des Workshops vorgestellt werden.
Thomas Kühtreiber & Sabine Miesgang
Das Teilprojekt untersucht, wie „Heil“ konzeptionell, organisatorisch und praktisch über Kleinreligiosa im Sinne des Kontiguitätsbegriffs nach M. Mauss vom Heiltum auf Rezipient*innen übertragen wurde. Das konkrete Fallbeispiel dazu sind die sog. „Fraisensteine“ (auch „Zeichen-“ oder „Wundersteine“) vom Dreifaltigkeits-Wallfahrtsort Sonntagberg (Bez. Amstetten, Niederösterreich). Dabei handelt es sich um kleine Objekte aus gebranntem Ton, in die Partikel des „Zeichensteins“, eines von zwei Heiltümern des Wallfahrtsortes, verarbeitet wurden. Entsprechend der örtlichen Überlieferung in den Mirakelbüchern und Votivbildern vornehmlich des 18. Jahrhunderts wurde durch körperlichen Kontakt mit dem Fraisenstein oder Inkorporation von abgeschabten Substanzen oder Flüssigkeiten, in die der „Stein“ eingelegt war, Heilung von Krankheiten bei Menschen und Tieren erwirkt. Die zentralen Sinne, die dabei angesprochen werden, sind somit taktile und gustatorische Sensoriken, wobei den Objekten auch eine transmediale Komponente zugeschrieben werden kann: Auf ihrer Oberseite wurde nämlich der „Gnadenstuhl“, das Motiv des zweiten Heiltums, aufgeprägt, womit auch auf visueller Ebene die Verbindung zum heiligen Ort gegeben war. Das Interesse liegt somit in den Aktualisierungspraktiken, in denen die “Fraisensteine” einerseits in komplexe Verweisstrukturen eingebettet wurden, aber andererseits auch in ihrer Materialität an den Aktualisierungspraktiken Anteil hatten.
Votivbild, Detail: Gebrauch eines sog. „Fraisensteins“, 18. Jahrhundert, Schatzkammer, Sonntagberg (Bezirk Amstetten; Foto: Karin Kühtreiber)
In diesem Projekt soll untersucht werden, wie über die kunsttechnische Bearbeitung von Materialien Virtualisierung funktioniert. Von besonderem Interesse sind Techniken, die Werkstoffe transformieren und Materialien und deren Eigenschaften imitieren. Eine besondere Rolle kommt dabei den auf das Licht bezogenen Materialeigenschaften Helligkeit, Glanz und Leuchtkraft zu, denn sie ermöglichen eine ästhetische Betrachtung, die auf metaphysischer Ebene auf das Göttliche verweist. Folglich sollen Kunsttechniken als ein “set of tools“ verstanden und untersucht werden, mit welchen Materialien bearbeitet werden, um Dimensionen und Realitäten zu erschaffen und/oder aufzurufen, die zwar jenseits der physischen Kontexte liegen, doch zugleich mit diesen wechselwirken und damit ebenso real sind. Die Untersuchung sowohl derjenigen (Material-)Eigenschaften, an welche die virtuelle Erfahrung z.B. der Transzendenz geknüpft ist, als auch der spezifischen Kunsttechniken, welche eine solche Wirkung hervorrufen, soll somit Hinweise auf Funktionsweisen von objektgebundener Virtualität liefern.
Madonna, Toskana, florentinisch?, 1225-1250, Detail. Cercina di Sesto Fiorentino, Sant’Andrea. © Kunsthistorisches Institut in Florenz — Max-Planck-Institut, Fotografin: Barbara Schleicher
Matthias Däumer & Peter Färberböck
›Virtualität‹ ist ein Phänomen, das einerseits in philosophischen Debatten (sei es bei Gilles Deleuze, Niklas Luhmann oder bei den universalistischen Anwendungen in der ›Kybernetischen Anthropologie‹ nach Stefan Rieger), andererseits in der verallgemeinernden Form der ›Virtual Reality‹ sehr weit verwendet wird. So weit, dass eine Rückführung von ›Virtualität‹ auf ihre konkrete mediale Bedingtheit in der Herstellung von utopischen oder dystopischen Settings fast schon wie ein Sakrileg erscheinen muss.
Dieses Sakrileg haben wir vor, gleich doppelt zu begehen: einerseits, indem wir Virtualität systematisch als Darstellungsmodus mittelalterlicher Höllenreisen konturieren, andererseits, indem wir diese Darstellung in eine konkrete mediale Relation zu zeitgenössischen Ego-Shootern setzen. Leitbild wird dabei der Avatar sein, die (ursprünglich hinduistische) Verdiesseitigung eines Göttlichen. Dieser Avatar kann als christlicher ›Seelenkörper‹ sowohl in der Hölle wie als ludischer Spieler*innen-Avatar in höllengleichen Action-Settings aktiv werden. In diesem Vergleich interessiert uns auch die Frage, wie die Körpersubstitute stellvertretend für den ›göttlichen Gamer‹ Schmerz erfahren können bzw. wie diese Schmerzerfahrung im Computerspiel dargestellt und vermittelbar wird – oder in der Hölle am Seelenkörper zu auffälligen Paradoxien führt, die interessante Parallelen zur digitalen Darstellung aufweisen.
Insgesamt ist die Zusammenschau der sehr unterschiedlichen Untersuchungsbereiche ›Game Studies‹ und ›Jenseitsreisen-Forschung‹ der Versuch, die anhaltende Behauptung einer ›Alterität‹ mittelalterlicher Kultur mit einem Vergleich zu entkräften.
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München 1992 [original: Différence et répétition, Paris 1968].
Luhmann, Niklas: Die Form der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München 1993, S. 349‒366.
Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/Main 2003.
Simon Marmion (ca. 1475): Das Tor zur Hölle. Illustration zur "Visio Tnugdali" (Quelle: GRI DiGital Collections); bearbeitet unter Verwendung des Ego Shooters "Doom" (1993)