Wie wir wissen, haben viele Forscher*innen, Esoteriker*innen, Machthaber*innen und sonstige verschrobene Gestalten bereits nach dem Gral gesucht. Dabei hat es weder Otto Rahn noch Henry Jones Sr. jemals großartig gestört, dass der Ursprung dieses ›mystischen Dings‹ ein rein literarischer und damit – auch wenn dieser Begriff für die höfische Literatur durchaus kompliziert ist – ein ›fiktiver‹ Gegenstand ist.
Den ursprünglichen 08/15-Gral prägte Ende des 12. Jahrhunderts Robert de Boron. Sein Gral ist ein Mythenmix, ein Amalgam aus keltischen Füllhorn-Erzählungen und christlichem Passionsgeschehen, geschüttelt und nicht gerührt in die Hand des hauptsächlich apokryphen Joseph von Arimathäa gedrückt. Zeitgleich zu Robert schrieb der auch an deutschsprachigen Höfen stark rezipierte Chrétien de Troyes in einem Romanfragment von einem Gral, der eine nicht weiter beschriebene goldene Schale sei. Diese glorifizierte Salatschüssel hat keine christologische Verankerung und wird von Chrétien auch nicht als ›der‹, sondern als ›ein‹ Gral (afrz. ›un graal‹) bezeichnet. Wolfram von Eschenbach übersetzt und beendigt Chrétiens Fragment. Er erklärt den Gral im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts wieder zum Unikat und macht aus ihm einen nicht weiter bestimmten grünen Stein, an dessen oberen Rand eine Schrift erscheine, die das direkte Wort Gottes sei. Diese Liste der Grals-Imaginationen wird über die folgenden Jahrhunderte immer länger. Im 15. Jahrhundert ist es im englischsprachigen Raum vor allem Sir Thomas Malory, der alles Folgende prägt und schließlich bewirkt, dass eine Unzahl unterschiedlicher Grale in den Händen von Erfolgsautor*innen wie Marion Zimmer Bradley oder Dan Brown landen – um von der Oper, der präraffaelitischen Malerei und den filmischen Manifestationen ganz zu schweigen.
Warum aber kann dieses mittelalterliche Ding, das aus heutiger Sicht so eindeutig fiktiv und so enorm vielgestaltig ist, von diversen kulturellen und geschichtlichen (Möchtegern-) Akteur*innen immer wieder vereindeutigt werden? Sind überhaupt diese Akteur*innen die antreibenden Kräfte? Oder ist es nicht vielmehr die Idee vom Gral, die als leeres Zentrum, als ›MacGuffin‹ (wie Alfred Hitchcock diesen Effekt nannte), die Suchenden um des Suchens willen am Suchen hält?
Wenn jemand Antworten auf diese Fragen wusste, dann waren es wohl die Habsburger. Denn Österreichs untot-unterlippige Royal Family war ganz darauf bedacht, sich allerzeitig mythisch abzusichern. So konnten sie sich – neben der ohnehin berüchtigten Reichslanze und dem herzerweichend fantastischen Ainkhürn – seit dem Burgundererbe im 15. Jahrhundert auch einen Gral in ihre Schatzkammer stellen. Dieser Habsburger-Gral ist wie bei Chrétien eine Schüssel, jedoch keine goldene. Vielmehr ist er wie bei Wolfram aus einem Stein, dessen oszillierendes Farbspektrum im ›richtigen Licht‹ auch das Grüne umfasst – und, ganz ähnlich dem Santo Caliz in Valencia, aus Achat. Aber in Wien kommt man Wolfram noch näher als in Spanien, lässt sich in der Steinmaserung und den durchziehenden Wasseradern doch der Name Christi in teils griechischer Schreibung (XRISTO) erkennen – so zumindest wird es behauptet, denn mit bloßem Auge sieht man diese Schrift nicht. Zum Glück hatten 2009 ORF-Mitarbeiter*innen ein besonders gläubiges Auge und auch das schon besagte ›richtige Licht‹, sodass es Filmmaterial zum Erscheinen dieser Schrift gibt. Gut, bei dessen Ausstrahlung in einem ZIB-Feature sieht das Ganze eher nach einer gezielten Kontrastbetonung im ansonsten wirren Verlauf der Linien aus; auch könnte es eher als ARISTO gelesen werden und somit statt auf den Erlöser auf Disneys adlige Katzen verweisen, aber was soll’s. Ebenfalls sei der Achatgral – dessen Fertigung sich auf das 4. Jahrhundert datieren ließ – eigentlich eine mit Jesus in Verbindung stehende Reliquie: Es wird also mit einer Differenz von lediglich ein paar hundert Jahren auch der Robert’schen Passion Genüge getan. Die Spezialführung zu diesem Habsburgergral im Wiener Schatzkammermuseum lautet übrigens »Der Da Vinci Code in Wien« (referierend auf Gabriele Lukacs Publikation zum besagten ›geheimen‹ Schriftzug) – Dan Brown darf heutzutage also anstelle von Wolfram auf dem Gralsschiff anheuern. Die sich an diesem Ding entfaltende Bezugsliste ist so lang, dass es eine nur schwer zu verwindende Leerstelle darstellt, keinen Beleg dafür zu finden, dass Franz Joseph in ihr seinen Kaiserschmarrn servieren ließ.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden.