Lorscher Bienensegen
Kirst, imbi ist hucze! nu fluic du, uihu minaz, hera
fridu frono in godes munt heim zi comonne gisunt.
sizi, sizi, bina: inbot dir sancte maria.
hurolob ni habe du: zi holce ni fluc du,
noh du mir nindrinnes, noh du mir nintuuinnest.
sizi uilo stillo, vuirki godes uuillon. *
Christus, der Bienenschwarm ist draußen! Nun fliegt her, meine
Tiere, im Frieden des Herrn und mit Gottes Schutz, damit ihr
gesund heim kommt. Sitze, sitze, Biene! Das gebietet dir die
Heilige Maria. Du darfst nicht ziehen: Nicht sollst du in den Wald
fliegen, noch sollst du mir entrinnen, noch dich mir entziehen.
Sitz ganz stille! Es wirke Gottes Wille.
(Nhd. Übersetzung: G.S.)
Die althochdeutsche Segensformel, welche in der Forschung unter dem Titel Lorscher Bienensegen bekannt ist, wurde im 10. Jahrhundert im Kloster Lorsch niedergeschrieben. Die Handschrift, in der die stabreimenden Verse kopfüber am unteren Rand eines Blattes eingetragen wurden, enthält die apokryphe Visio S. Pauli und befindet sich heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana. Wie bei althochdeutschen Zaubersprüchen und Segensformeln oft beobachtbar, spricht ein beschwörendes Ich zu einem mehr oder – in diesem Fall weniger – passiven, erduldenden Du, den Bienen. Die Sprachhandlung setzt offensichtlich an einem in der Imkerei sehr sensiblen Zeitpunkt ein: Die Bienen schwärmen aus und das Volk teilt sich. Mit der Hilfe Gottes, Christi und Marias sollen die schwärmenden Bienen am Wegfliegen gehindert und dazu gebracht werden, wieder heil zum Bienenstock zurückzukehren. Segen und Beschwörung zugleich, fungiert dieser kurze Text als sprechaktgebundener Ausdruck des Glaubens in die unmittelbare göttliche Wirkmacht auf die Natur. Um diese Wirkmacht zu aktivieren und in die gewollten Bahnen zu lenken bedarf es der situativ richtigen „Tools“ – in diesem Fall des passenden Spruchs.
Der Lorscher Bienensegen ist ein herausragendes Zeugnis einer sehr alten Mensch-Tier-Beziehung: Bereits in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens entstanden im dritten vorchristlichen Jahrtausend die ersten Formen organisierter Bienenhaltung. Im deutschen Sprachgebiet wurde die Imkerei unter Karl dem Großen erstmals reguliert und war fester Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens in den Klöstern des frühen Mittelalters. Bienen waren als Nutztiere und Rohstofflieferantinnen hoch geschätzt – nicht nur wegen des Honigs, der erst mit der Zucht und industriellen Nutzung der Zuckerrübe im 18. Jahrhundert vom Zucker als Hauptsüßungsmittel abgelöst wurde, sondern auch wegen ihres speziellen Baumaterials: Wachs wurde außer zur Kerzenherstellung beispielsweise auch für das Abdichten von Gefäßen verwendet, für das Imprägnieren von Textilien, für die Herstellung von Schreibtafeln, das Anfertigen von Siegeln und vieles anderes mehr.
Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung insbesondere im klösterlichen Kontext ist es kaum verwunderlich, dass die Bienen auch früh Eingang in die mittelalterliche religiöse und gelehrte Symbolik gefunden haben. Ihre beobachtete Keuschheit ließ sie geeignet erscheinen, auf Maria und die jungfräuliche Geburt bezogen zu werden. Ihr Anlegen von Vorräten und das „vorausschauende“, „weise“ Handeln machten aus ihr ein Vorbild für die christliche Lebensführung. Ihr Fleiß, ihre „Bescheidenheit“, ihre Arbeitsteiligkeit und die feste Ordnung im Bienenstock dienten Thomas von Cantimpré als Inspiration für seinen idealen Gesellschaftsentwurf im Bonum universale de apibus. Selbst geisteswissenschaftliche Forscher*innen von heute können der Biene als Allegorie etwas abgewinnen, denn das emsige Fliegen von Blume zu Blume beziehungsweise von Text zu Text, das Sammeln von Pollen respektive Wissen und die abschließende Erzeugung von Honig, i.e. das Generieren neuen Wissens und neuer Hypothesen, lassen sich durchaus in Analogie zueinander setzen.
* Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit einem Wörterbuch versehen von Wilhelm Braune, fortgeführt von Karl Helm. 15. Aufl. bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen 1969, S. 89f.