Siegrid Schmidt
The „Bestial Turn“ oder: Die vielen Gesichter des Drachen
Bekannt ist der Drache im Mittelalter in Mitteleuropa – nicht zuletzt wegen Georgs Drachenkampf – als wildes, grausames, feuerspeiendes Tier, das Prinzessinnen kidnappt und nur von den besten Rittern besiegt werden kann. Aber schon von einem der bekanntesten Drachen der mittelalterlichen Literatur, dem wurm des Nibelungenliedes, ist nicht nur Abgrundschlechtes zu berichten. Immerhin verleiht er dem siegreichen Helden eine Hornhaut, die ihn unverletzlich und in der Konsequenz eigentlich unsterblich machen soll. Dass dies nicht so klappt, ist menschliches Versagen. In manchen Fassungen verleiht das Drachenblut noch weitere Eigenschaften wie zusätzliche unermessliche Kraft bzw. die Fähigkeit, die Stimmen der Vögel zu verstehen.
Am Ende des Mittelalters entwickelt der Drache allerdings nochmals extreme Ausformungen seiner Grausamkeit. Ein besonderes Erscheinungsbild eines drachenartigen (Höllen-)Vogels oder (Höllen-)Hundes tritt in den Holzschnitten von Sebastian Brants Narrenschiff (Erstdruck 1494) auf den Plan. Das gesamte Werk steht im Spannungsfeld zwischen beißender Gesellschaftssatire und moralisierendem Sittenbild. Dass hier vieles verfremdet und auf den Kopf gestellt wird, zeigen auch diese seltsamen Tiere. Sie sitzen nicht in Höhlen und bewachen einen Schatz u.ä., sondern sie stehen direkt neben oder unter jenen, die im Begriff sind, gesellschaftlich-moralisch Unliebsames zu tun, beispielsweise gefundenes Fremdes Gut behalten oder sich übermäßig der Eitelkeit hingeben. Diese Wesen befeuern die Handlungsweise des Getadelten mit einem Blasebalg. Sie sind offensichtlich nicht mit dem Schwert zu besiegen, sondern höchstens durch andere Verhaltensweisen zu vertreiben. Im mit Holzschnitten illustrierten Druck des Hürnen Seyfrid (Nürnberg 1530) erscheinen ganze Heere von Drachen. Der junge Seyfrid kann einen Drachen besiegen und dessen Blut verleiht ihm die schützende Hornhaut. Allerdings ist damit die Spezies Drache nicht ausgerottet. Ein fliegender Drache raubt Krimhilden direkt aus ihrem Gemach; d.h. der Drache hat die Höhle und den Wald verlassen und dringt direkt in die Burg, also in die menschliche Lebenswelt, die Zivilisation ein. Dieses Monster ist darüber hinaus nicht alleine. Bei Krimhilds Befreiung auf dem Drachenstein sieht sich Seyfrid diesem Riesendrachen und zusätzlich 60 Jungdrachen gegenüber. Wen wundert’s, dass Seyfrid nach vollbrachter Tat in einer onmacht vor grosser hitz und müde niedersinkt. Das Ende des kurzen Heldenepos, sein Dichter und z.T. seine Prätexte bleiben im Dunkeln, allerdings ist es dieser Text mit seinen Drachen, der die literarischen Monster in Form des Volksbuches etwas am Rande des Literaturbetriebs über die Jahrhunderte trägt, bis im 18./19. Jh. wieder neues Interesse am Mittelalter und seinen Helden auflebt.
Hier finden sich bei Grimms, Schlegel, Hebbel und Wagner wieder jene Drachen, die in Höhlen und Wäldern ihr Unwesen treiben, Schätze beschützen und nur von den besten besiegt werden können. Es gibt nur sehr punktuelle Ausreißer. Besonders in der Folge von Wagners Werk blühen um die Jahrhundertwerde vom 19. zum 20. Jh. Parodien auf des Meisters Pathos. Ein umfassend österreichisches Beispiel: Oskar Straus‘ Operette „Die Lustigen Nibelungen“ (1906) verbindet freilich mit Siegfried auch Drachen. Sie sind allerdings, zumindest in einer Wiener Inszenierung in der Volksoper zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zu grün verkleideten Schoßhündchen mutiert.
Den großen Einschnitt für die Drachen brachten die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Viel hatte sich verändert. Überkommene Autoritäten wurden hinterfragt und abgeschafft („1968“), und Helden und damit auch ihre Gegner und Herausforderungen bekamen ein anderes Gesicht, im wörtlichen und übertragenen Sinne.
Im englischsprachigen Raum erscheint schon 1961 von Rosmary Manning „The Dragon’s Quest“. Es ist nicht mehr die Abenteuerfahrt eines Ritters, einen Drachen zu finden und idealerweise zu besiegen, sondern der Drache geht auf Queste, um fragend einen verschwundenen Königssohn zu finden. In den 70ern, angestoßen nicht zuletzt von Franz Sales Sklenitzkas „Drachen haben nichts zu lachen“, werden aus den bedrohlichen Bestien, die nur die Stärksten töten können, hilflose, verfolgte, ohnehin vom Aussterben bedrohte, meist sympathische Wesen (aus einer anderen Zeit). Dieses Schicksal droht auch dem „Großen Drachen“ aus Hans Baumanns Feder. Der freundliche Geselle wohnt in einer Riesenhöhle zwischen Ritterburgund bäuerlichem Anwesen. Als Ritter und Bauer von der Existenz des Drachen Notiz nehmen, wollen sie ihn verderben, da sie ihn per se als Bedrohung wahrnehmen. Anders die Kinder des Bauern. Anna und Franz nehmen mit dem Drachen persönlichen Kontakt auf und bemerken, dass er freundlich und höflich ist und eigentlich ein Umweltschützer, denn er trägt den ganzen Berg, in dem er wohnt.
Eine besondere Lektion hat eine „aufgeklärte Mutter“ zu lernen, die der Meinung ist, Drachen gäbe es gar nicht. Das verletzt naturgemäß den Stolz eines kleinen Stoffdrachens, der nach dieser despektierlichen Äußerung von Felix Mutter alle Frühstückspfannkuchen isst und von Stund an wächst und wächst, bis er größer ist als das ganze Hause und dieses letztlich auf seinem Rücken durch den Ort schleift. Erst als ihn Felix ausdrücklich als lebenden, real existierenden Drachen anspricht und ihn liebevoll streichelt, schrumpft er auf die „Größe eines Kätzchens“ und wird als solcher ein wohlgelittenes und geliebtes Familienmitglied.“ In Anknüpfung an den chinesischen Glücksdrachen lässt Michael Ende seinen Atriu auf einem solchen über die Länder fliegen, um die kindliche Kaiserin zu finden („Die unendliche Geschichte“). Hier sind gewissermaßen die Rollen vertauscht – der Drache wird zum Retter der Entführten, geraubt von ganz anderen Gegenspielern. Es ist unschwer zu erkennen, dass es die Kinder sind, die Drachen nicht mehr als Bedrohung erleben. Wenn im 20. Jh. Erwachsene Geschichten über Drachen für Erwachsene erzählen, ist es die Ausnahme, wenn diese angeblichen Ungeheuer als nützlich oder gar freundlich in Szene gesetzt werden wie beispielsweise bei Stanislaw Lem („Vom Nutzen des Drachen“). Anders in Wolf Biermanns „Der Dra-Dra“, wo die drachische, zerstörerische Kraft als dem Menschen oder der gesamten Gesellschaft inhärent insinuiert wird.
Vermutlich gibt es noch viel, viel mehr Drachen, die nicht in die Literatur Eingang gefunden haben – Drachen, die für Bedrohungen stehen, Bedrohungen, die zu zähmen waren, aber doch durch andere Monster ersetzt wurden.