Ein Hund, das Rote Meer und die Donau
Auf der emaillierten Platte des „Durchzugs durch das Rote Meer“ im Klosterneuburger Goldschmiedewerk des Nikolaus von Verdun führt Moses drei Israeliten an. In ikonographischer Hinsicht ungewöhnlich ist die Traglast der hinteren Figur, auf deren geschultertem Bündel ein Hund sitzt. Dieser ist sowohl naturalistisch dargestellt als auch in besonderer Weise hervorgehoben: Er überschneidet nicht nur wie der Nimbus des Moses einen der beiden Kleeblattbogenzwickel und ist die am höchsten platzierte Figur im Bild, sondern scheint als einziges Wesen die göttlichen Himmelstrahlen wahrzunehmen, die für die Wolken- und Feuersäule des biblischen Berichts stehen, in der Gott das Volk anführt und gegen die Ägypter abschirmt. Ihm scheint wie dem Ochsen und dem Esel bei der Geburt Christi hier eine besonders privilegierte Offenbarung zuteil zu werden. Doch warum wird er überhaupt getragen?
Im biblischen Bericht wird zweifach hervorgehoben, dass die Israeliten über trockenen Meeresboden ziehen – es macht daher höchstens Sinn, diejenigen Kinder zu tragen, die noch nicht laufen können, wie dies im Bild ebenfalls dargestellt ist und der ikonographischen Tradition des “Durchzugs“ entspricht.
Der getragene Hund auf dem Bündelsack entspricht einem Szenario der Alltagserfahrung, die in Klosterneuburg jedem hinlänglich bekannt gewesen sein dürfte. Im Mittelalter war die Donau auch hier ein in der Breite ausgedehntes Wassersystem mit vielen Armen, das immer wieder Überschwemmungen mit sich brachte. Vor allem während der Eisschmelze und nach starken Regenfällen musste man darauf eingestellt sein, Fahrzeuge, Tiere und Lasten auf den Wegen und Straßen durch Wasser zu manövrieren. Dass man auch hier göttlichen Beistand erwartete, damit die Sache gut ausging, versteht sich. Und in diesem Kontext konnte es sinnvoll sein, kleinere Hunde zu tragen. So wird im Klosterneuburger Goldschmiedewerk das Wunder des sich teilenden Meeres überblendet mit einem lokalen Alltagswissen; der Hund als Marker dieses Alltagswissens wiederum wird als bildlicher Zeuge des göttlichen Wirkens bildstrategisch in Szene gesetzt.