Nur wenigen Lebewesen wurde so viel Misstrauen entgegengebracht, so viel falsche Nachrede angedichtet und solch ein Übermaß an Konnotation aufgenötigt wie diesem an sich doch recht sympathischen Sechsfüßler. Schon der lateinische Hauptname des ›kleinscherigen Ohrwurms‹, Forficula, lässt die Assoziation zu einem transsilvanischen Adelsgeschlecht mit Zahnstellungsfehler ihre schwarzen Flügel spreizen. Doch auch in den deutschen Dialekten sind seine Namen nicht minder spitz. Den menschlichen Gehörgang schände er ‒ so der zu einem frotzelnden Lächeln verzogene Volksmund ‒ als ›Fitzler‹, ›Kneifer‹, ›Klemmer‹, als ›Zwicker‹, ›Schliefer‹, ›Schlüpfer‹, als ›Kneiper‹, ›Kriecher‹, ›Wusler‹ oder ganz gemeinhin als ›Laus‹.
Dabei ist des Ohrwurms wahrstes Wesen die Unschuld in Chinin. Die Form seiner ausgebreiteten Hautflügel gleicht der des menschlichen Ohrs, weshalb er, gemörsert von metaphorisierendem Stumpfsinn, schon seit der Antike als Heilmittel gegen otologische Beschwerden galt. Dies ließ ihn im Latein zum liebevollen ›Öhrchen‹ (auricula), im Englischen zum ohrsprünglich beflügelten earwi[n]g werden.
Der hypothetischen Heilkraft steht ein Irrglaube entgegen, dergestalt, dass dieser Freigeist der Fluginsektenfamilie es nötig hätte, in den menschlichen Gehörgang zu kriechen. Schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert wird dies in der Naturalis Historia von Plinius dem Älteren erfabelt ‒ bis heute jedoch hat nachweislich noch keines dieser Tiere auch nur einen seiner sechs Füße freiwillig in dieses Schmalzgebiet gesetzt. Dennoch unterstellt dem Insekt das Französische mit perce-oreille, das Italienische nicht minder irritierend mit forfeccina perforative, versehrende und invasorische Intensionen ‒ womit über den Ohrwurm nichts, sehr viel jedoch über den Hang der romanischen Sprachen zu Verleumdung und Lüge ausgesagt scheint. Das ōri im althochdeutschen orenwurm hingegen bevorzugt den dichterischen Doppelsinn, meint es doch nicht nur das menschliche Horchorgan, sondern setzt neben das ›Ohr‹ ein umlautendes ›Öhr‹ ‒ und es ist letzteres, das metaphorisch auf die Zangenstellung des männlichen Insekts bezogen wurde.
Die größte metaphorische Misshandlung jedoch ließ erst das moderne Deutsch dem Ohrwurm angedeihen. Paul Lincke (1866–1946), der als Operettenkomponist nur allzu gut wusste, wie man mit musikalischen Gemeinheiten die memoriale Leistung des Menschen zu malträtieren vermag, meinte den Nützling auf nichtige Lieder, Schlager oder Hits hetzten zu müssen. In heraldischer Anmaßung setzt sich seitdem alles, was im deutschsprachigen Raum humba-humba-humbert oder tä-tärä-tärät, den Dermaptera ins Wappen.
Es sind unfraglich die zangenförmig umgeformten Hinterleibsfäden, die dem Insekt sein schlechtes Image bescheren. Im Tierreich werden diese natürlich auch zur Abschreckung, zur Verteidigung oder selten sogar zur Jagd genutzt ‒ jedoch nicht zum Angriff auf menschliche Ohren, wie der Name ›Ohrkneifer‹ ebenso wie der Bezug auf memoria-marternde Melodien hinterhältig suggeriert.
Nein, es ist neben all diesen Verleumdungen eine andere Funktion, die den feinfühligen Forficula weitaus besser charakterisiert: Er nutzt die Zangen zum Ausbreiten seiner rückwärts auf den Hinterleib origamisierten Flügel. Und das, obwohl die meisten Arten des Ohrwurms gar nicht fliegen können! Seine Fittiche sind verledert und dienen in der Regel weder Flug noch Flucht. Ihr Entfalten, dem die fälschlich als Bedrohung wahrgenommenen Zangen dienen, ist vielmehr herzerweichend in seiner Nutzlosigkeit und damit einzig und allein… ein Akt der Schönheit.
In diesem Sinne erfolge hier ein Plädoyer dafür, den Ohrwurm aus seiner Anrüchigkeit des Ohr-Aggressors ebenso wie aus seiner Verklausulierung klebrige Klänge zu befreien, um ihn stattdessen ästhetisch ‒ soll heißen: unter der Schutzherrschaft der ›Yngvi-Schönheit‹ (ingwia-fiðr) ‒ zum Heiligentier des Hörspiels zu kanonisieren.