Gerhard Jaritz
Der Schweinebiss
„Die Gärtnerinn Wittech zu Wangschütz in Schlesien hatte im October 1814 Geschäfte in der Mühle, die nicht weit vom ihrer Wohnung entfernt lag. Bevor sie dahin ging, legte sie ihr Kind, welches erst neun Wochen alt war, in die Wiege, und entfernte sich dann, als dasselbe fest schlief. In der Hoffnung, daß sie bald wieder zurück sein würde, lehnte sie die Stubenthür nur obenhin zu, ohne sie fest zuzuschließen. Während ihrer Abwesenheit drang das Zuchtschwein, das im Hofe frey herum lief, in die Küche, […] öffnete es sich mit dem Rüssel die Stubenthür […] und kam in die Stube. Das schlafende Kind hatte einen Arm über die Wiege herabhängen. Das Schwein […] ergriff den Arm des Kindes, zog das arme Würmchen aus der Wiege, und schleppte es bis zur Küchenthür. Da fiel das Schwein mit Heißhunger über das Kind her, biß ihm den rechten Arm an der Wurzel ab, fraß ihn, und machte sich über den linken her, von dem es auch schon die Hand abgebissen hatte, als die Mutter zu dem blutigen Schauspiel dazu kam. Die Mutter sank vor Schrecken und Herzenleid ohnmächrig zur Erde. Das Kind lebte noch einige Zeit, endlich starb es unter gr0ßen Schmerzen. – Wie leicht hätte dieser schreckliche Unglücksfall verhüthet werden können! […] Welch ein großer Schaden entsteht oft aus einer kleinen Nachlässigkeit“ (Chimani 10 f.).
Dieser Bericht aus dem beginnenden 19. Jahrhundert bezieht sich auf Unglücksfälle, welche seit dem Mittelalter regelmäßig nachweisbar sind: die Verletzung oder Tötung von meist unbeaufsichtigten Säuglingen oder Kleinkindern durch Bisse von Schweinen. Neben derartigen Berichten finden sich andere Arten von Quellen, die auch weitere Aufschlüsse über die Reaktion von indirekt Betroffenen geben. So zeigt etwa eine Darstellung im Votivbild-Zyklus des salzburgischen Wallfahrtsortes Großgmain von 1513 eine Darstellung, die sich mit der Errettung eines Säuglings nach einem Schweinebiss auseinandersetzt (Abb.). Der beigefügte Text schildert das Ereignis:
Ein saw hat einem kind das heupl gar erpissen
und zerrissen und es ward her versprochen
mit einem lebentigen opfer und ward gesundt.
Nicht nur in Bezug auf den Biss zeigt sich regelmäßig die negative Beurteilung des Schweines. Schon im Mittelalter wird das Tier auch mit Schmutz und Lust in Zusammenhang gebracht und dient als Judensau zur Verunglimpfung der religiösen Minderheit. Mitunter findet sich jedoch auch die unerwartete Darstellung des Tieres als Wesen, das die Aufgaben von Menschen übernimmt, die Letztere nicht zu leisten willens sind (Jaritz 431 f.).
Die besonders im Mittelalter üblichen und mitunter noch im 19. Jahrhundert nachweisbaren Tierstrafen betreffen häufig auch Schweine (Amira; Evans; Dinzelbacher; Chauvet). In seiner wichtigen und heute noch heranzuziehenden Arbeit von 1906 hat Edmund P. Evans für die Zeit vom 13. bis zum 19. Jahrhundert auch eine Reihe von meist französischen Quellenbelegen zu den Bestrafungen, häufig Hängen, von Schweinen gesammelt, welche sich mehrheitlich auf die von denselben durch Biss begangenen Verletzungen oder Tötungen von Kindern beziehen:
1266,Fontenay-aux-Roses (Evans 140);
1379, Saint-Marcel-lez-Jussey: Perrenot a esté trouvé blessier à mort par lesdites truyes (Evans 342 f.)
1386, Falaise: … une truie de l’age de 3 ans ou environ, qui avoit mangé le visage de l’enfant (Evans 335).
1394, Roumaigne: … un porc, lequel avait tué et meurdis un enfant en la paroisse de Roumaygne (Evans 336 f.).
1403 Meillant: … une truye qui avait devoré un petit enffant (Evans 338);
1408, Pont de Larche: … un porc avoit muldry et tué ung pettit enfant (Evans 342 f.);
1457, Savigny: une truye murtre et homicide en la personne de Jehan Martin en aige de cinq ans (Evans 346 f.);
1494, Clermont-lez-Montcornet: ung jeune pourceaulx eust éstranglé et défacié ung jeune enfant (Evans 354 f.);
1499, Sèves: .: pour raison de la mort advenue à la personne d’une jeune enfant (Evans 352 f.);
1567, Saint-Nicolas d’Acy: la mort advenue à une jeune fille âgée de quatre mois ou environ,[…], trouvée avoir esté mangée et devorée en la tete, main senestre et au dessus de la mamelle dextre par une truye ayant le museau noire ; … la cruauté et ferocité commise par la dite truye (Evans 356 f.);
1867, Pleternica (Ktoatien): Schwein biss einem einjährigem Mädchen die Ohren ab und wurde exekutiert (Evans 137).
Der Schweinebiss und die Auseinandersetzung mit ihm sind im Mittelalter wie auch zum Teil noch heute wohl als globales Phänomen anzusehen, das überall dort auftritt, wo Schweinezucht betrieben wurde und wird. Sogar in einer der Geschichten aus der isländischen Sturlung Saga wird von einer Sau berichtet, die aus dem Stall ausbrach und in ein Bauernhaus eindrang, dort ein Kind zu Tode biss, um danach wieder in ihren Stall zurückzukehren (McCooey 23). Viele weitere Beispiele könnten angeführt werden. Im 20. und 21. Jahrhundert tritt eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Schweinebiss international vornehmlich in der medizinischen Fachliteratur (z.B. Morgan) in Bezug auf rurale Gesellschaften auf (z. B. Indien: Challa und Bhatiam; Bhadani et al.).
Der Schweinebiss hat schließlich auch in der Gegenwartsliteratur Eintritt gefunden und zwar in ähnlicher Weise, wie es die mitunter im Mittelalter auftretenden didaktischen Positivbeurteilungen des Tieres zeigen. Im berühmten Roman Lenins Küsse des chinesischen Autors Yan Lianke werden in einem von Behinderten bewohnten Dorf die Eltern einer Familie, die zusammen mit ihren Schweinen schläft, gefragt, ob sie nicht Angst hätten, dass die Schweine ihre Kinder beißen würden. Die Eltern vergleichen menschliche Eigenschaften mit jenen des Schweines und stellen fest, dass sich Schweine oft besser benehmen als Menschen. Es wäre nicht so sehr ein Risiko, dass die Schweine Menschen bissen, sondern eher, dass die Menschen Schweine bissen. (Lianke 274 f.).
Bibliografie
Bhadani, Umesh Kumer, Punat Brasam Bhadani, Rajeev Sen und Ishwar Singh, Facial injury of infant by domestic pig bite: neglect, ignorance, or house designs defect?, in: Plastic and Reconstructive Surgery 117/4 (2006), 1356-58.
Challa, Sairam und Prakash Bhatiam, Pig Bites: An Under-Reported Public Health Menace, in: Indian Journal of Public Health Research & Development 6/2 (2014), 102ff.
Chauvet, David, La personnalité juridique des animaux jugés au Moyen Âge, XIIIe-XVIe siècles. Paris 2012.
Chimani, Leopold, Wahre Geschichten, welche sich in den letzten Jahren zugetragen haben. Zur Belehrung und Warnung für die Jungen gesammelt, 3. Aufl. Wien 1816.
Dinzelbacher, Peter, Das fremde Mittelalter: Gottesurteil und Tierprozess. Essen 2006.
— , Tierprozesse und -strafen: Erklärungsversuche der aktuellen Forschung. In:·Andreas Deutsch und Peter König (Hrsg.), Das Tier in der Rechtsgeschichte. Heidelberg 2017, S. 413-448.
Evans, Edward Payson, The Criminal Prosecution and Capital Punishment of Animals. London 1906, mit einer Reihe von Neudrucken.
Jaritz, Gerhard, Constructing Good and Bad “Others“ in Context-bound Late Medieval Visual Culture, in: Attila Kiss, Agnes Matuska und Róbert Péter (Hrsg.), Fidele Signaculum: Írások Szőnyi György Endre tiszteletére / Writings in Honour of György Endre Szőnyi. Szeged 2022.
Lianke Yan, Lenin’s Kisses. New York 2013 (deutsche Ausgabe: Lianke Yan, Lenins Küsse. Köln 2015).
Morgan, Marina S., Treatment of Pig Bites, in: The Lancet 348/issue 9036 (1996), 1246.
McCooey, Bernadette, The Forgotten Pigs and Goat of Iceland and in a North Atlanric Context, in: Laszló Bartosiewicz and Alice Choyke (Hrsg.), Animals on the Move: Between Body and Mind. London 2021.