
1473–90, Außenseite des linken Flügels (linke Hälfte).
Foto: Salzburg Museum, Alpenstraße 75, 5020 Salzburg.
Zwei Tiere kann man in der Darstellung des Apostels und Evangelisten Johannes entdecken, die sich auf der linken Flügel-Außenseite des Marien-Altarretabels des sogenannten Meisters der Virgo inter Virgines befindet. Zu Füßen von Johannes, halb von den Falten seiner bodenlangen Tunika verdeckt, sitzt der Adler, das Symbol des Evangelisten. Er ist auf derselben annähernd kreisförmigen Platte mit abgerundetem Rand platziert, auf der auch der Evangelist selbst steht. Neben der Ausführung in Grisaille werden Betrachtende durch diese weichen Boden suggerierende Standfläche und vor allem durch den polygonalen Figurensockel, gegen den sie sich abhebt, darauf hingewiesen, dass hier eine Steinskulptur dargestellt ist.
Während der Adler offenbar der Realitätsebene der gemalten Skulptur angehört, der dezent scheckige Farbauftrag an seinem Hals sich etwa als rau bearbeitete Oberfläche des Steins denken lässt, die wiederum auf die Textur „realen“ Vogelgefieders Bezug nimmt, fällt bei dem Drachen über dem Kelch ein Bruch in der materialen Illusion auf. Das schlangen- bzw. echsenartige Wesen, das als sichtbare Verkörperung der Toxizität dem vergifteten Wein entweicht, nachdem Johannes das Kreuzzeichen über dem Kelch geschlagen hat, hebt sich in der leicht bläulichen Farbigkeit von dem steinernen Hellgrau des Evangelisten ab und erscheint im Gegensatz zu dessen opaker Materialität durchscheinend, oder in Auflösung begriffen – zwei Beine, Schwanz und Flügel sind nur schemenhaft angedeutet.
Dem Maler ist es offenbar passend erschienen, dem Narrativ einer materiellen Transformation (giftiger Wein wird genießbar), dessen erzählerische “Bausteine” durch die Übersetzung in das Medium Bild ihrerseits materiell transformiert wurden (Gift wird Drache, der entweicht), in seiner als gemalte Skulptur umgesetzten Version einen weiteren “material turn” hinzuzufügen: aus dem scheinbar in Stein, dem so festen und unveränderlichen Material, gehauenen Weinkelch entweicht ein nicht-steinerner Drache, der sich zusätzlich auch noch auflöst. Letztlich vollziehen sich hier übernatürliche Vorgänge auf der Ebene der malerisch imitierten Materialien, die zu dem Wunder der dargestellten Legende ein Echo bilden.