Blöde Ziege?
Vermutlich ist es eher aktuellen soziokulturellen Trends als rezenten Forschungen zur Intelligenz und Gelehrigkeit von Ziegen geschuldet, dass das Schimpfwort für Frauen und Mädchen – wie es auch schon im Mittelhochdeutschen anzutreffen war – langsam nur noch in der Kinder- und Jugendliteratur sein Unwesen treibt, ansonsten aber eher in Vergessenheit gerät.
Distant Viewing
All jene, die noch damit traktiert werden oder die andere mit „blöde Ziege“ abwerten, soll ein Beispiel aus den Concordantiae Caritatis zum Nachdenken bewegen. In der ins Weltdokumentenerbe aufgenommenen Handschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, die heute als Codex Campililiensis 151 im Stift Lilienfeld in Niederösterreich aufbewahrt wird, findet sich auf Folio 117 recto eine Begebenheit aus dem Tierreich, für die Aristoteles als Auskunftsperson angeführt wird: „Die Wildziege erkennt von den Bergen her, ob die Vorübergehenden Wanderer oder Jäger sind.“ (Übersetzung des lateinischen Originals von Herbert Douteil) Bereits auf große Entfernung hin kann das Tier die näherkommenden Menschen also anhand von bestimmten sichtbaren Merkmalen oder Handlungen kategorisieren und mit diesem Wissen bewerten, ob die zu erwartenden Aktionen unverfänglich oder schädlich sind.

Die gute Beobachtungsgabe von Ziegen und der davon wesentlich beeinflusste Erfindungsreichtum, wie sie zur schmackhaftesten Pflanze – oder aber bei domestizierten Tieren: in die Freiheit – gelangen können, hat letztlich natürlich aber auch zu ihrem Ruf als störrische und eigensinnige Lebewesen geführt. Wie wir heute wissen, sind die waagrecht langgezogenen Pupillen von Ziegen und ihre seitlich am Kopf angeordneten Augen mit ein Grund dafür, dass sie ein erweitertes Sichtfeld haben und damit tatsächlich Raubtiere frühzeitig erkennen können. In der kolorierten Federzeichnung auf Folio 116v in den Concordantiae Caritatis ist es entgegen der zugehörigen Textstelle weniger die große räumliche Distanz als die Unterscheidung zwischen in der Ebene schreitenden Männern und am Hügel stehender Ziege, die im Bild den nötigen Abstand für ein Screening der Näherkommenden suggeriert. Dass hier der bewertende und urteilsfähige Blick des Tieres in den Fokus rückt und ernstgenommen wird, kommt nicht von ungefähr. Schließlich geht es um den Vergleich mit „nobilissima capreola“, also Christus als edelster Wildziege, der noch von den höchsten Höhen aus die Taten und Werke der Menschen beurteilen kann. Wir sehen ihn, den Kopf bereits in den Wolken, im großen mittleren Medaillon mit der Himmelfahrt, auf die die darunter in zwei Reihen angeordneten Szenen Bezug nehmen. In diesem Sinn ist auch im Bild oberhalb von der Wildziege die Wüste „desertum“ als Anhöhe gestaltet, um die Aufwärtsbewegung des Sündenbocks (beladen mit dem Schuldzettel, „peccata populi“) zu betonen. Wüste ist es hier vielleicht weniger im Sinne Isidors Definition dieser Regionen in den Etymologiae, „quia non seruntur et ideo quasi deseruntur; ut sunt loca silvarum et montium“ (weil sie nicht bepflanzt werden und daher sozusagen verlassen sind; Wüsten sind beispielsweise Wald- und Gebirgsregionen). Hier ist eher die Gleichsetzung von Wüste mit der Verlassenheit „derelictum“ des Himmels nach dem Engelssturz und die Verbindung mit Christus, dem Sündenbock, der wieder in den Himmel aufsteigt, dafür verantwortlich, dass es sich um einen Hügel handelt, auf dem die Vegetation sprießt. Die visuellen Muster, die wir beim Lesen des Wortes Wüste aus unserem Bildgedächtnis abrufen und die mittelalterliche Federzeichnung, die mit „desertum“ beschriftet ist, werden auch hier zwangsläufig zunächst Diskrepanzen aufweisen.