Das Leporello als Medium – Objekt – Papierne Skulptur
Am IMAREAL stehen die Dinge im Fokus, materiell überlieferte Gebrauchsgegenstände oder Kunstwerke ebenso wie auf Bildern dargestellte und in Texten beschriebene Objekte. Wir interessieren uns für ihre Bedeutung, ihre Materialität und ihre Kontexte. „Dinge entfalten“, der neue Titel der Rubrik für monatlich erscheinende Kurztexte (ehemals: „Bild des Monats“), soll auf eine methodische Berücksichtigung der Vielfalt in den Ding-Überlieferungen verweisen.
Die Entscheidung für den neuen Titel ging am IMAREAL mit der Produktion eines Leporellos als Printerzeugnis einher. Ein Leporello ist ein Faltmedium, das Bilder und/oder Texte beinhaltet und in eine bestimmte Anordnung bringt, und es ist gleichzeitig selbst ein Objekt in der Realität des Rezipienten. Im Fall unseres Leporellos werden sechs Dinge in und mit diesem Papierobjekt haptisch und thematisch entfaltet: Eine Fliege auf einer Pfingstminiatur, ein figürliches Aquamanile aus Keramik, ein Mund-Nasen-Schutz sowie Fingerschmuck in der Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts, „Lieferdienste“ in der Buchmalerei und Schwimmhilfen in illustrierter Literatur des 14. Jahrhunderts.
Die Ziehharmonikaform eines Leporellos, das im Gegensatz zum Buch die Gesamtbreite all seiner Seiten in den Raum ausgreifen lassen kann, hat viele Epochen und Kulturen fasziniert. Es sind Leporellos der Maya und Azteken überliefert, aus China und aus dem mittelalterlichen Europa. Eine Blüte erlebte das Leporello im 19. Jahrhundert, als auch sein im Deutschen gebräuchlicher Name entstand. Abgeleitet ist er von dem Namen des Dieners Leporello, welcher zu der sogenannten Registerarie in der Oper „Don Giovanni“ eine Liste mit den Liebesaffären des Protagonisten entrollt. Im zugehörigen Libretto wird die Form der Liste allerdings nicht beschrieben, und in Stichen von Inszenierungen des 19. Jahrhunderts ist eine Buchrolle zu sehen. Kurz: Man weiß, woher der Name stammt, der für das fiktional-italienische Setting der Oper generiert wurde, nicht aber, wie es zu der Übertragung auf das Faltalbum kam.
Das „Raumgreifende“ der Seiten des Leporellos bedingt seine mediale Wahrnehmung: Bei Entfaltung sind alle Seiten sichtbar und können in nur zwei Ansichten in Ganzheit wahrgenommen werden. Durch die ziehharmonikaähnliche Faltung bietet es sich zudem an, das Leporello aufzustellen: Es erhält damit etwas Skulpturales. Seine Wahrnehmung hängt somit in ganz anderer Weise von der Seitenzahl ab als dies beispielsweise beim Buch der Fall ist. In einem Buch blättert man, ein Leporello zieht man auf. Das Format des Leporellos wurde vor allem für mediale Inhalte mit großem Bildanteil genutzt, sowohl für eine horizontale als auch vertikale Entfaltung: Beispiele sind das sogenannte Wiener Musterbuch aus dem 15. Jahrhundert und fotografierte Stadtansichten im 19. Jahrhundert. In unserem Leporello wird jeweils eine Bildseite mit einer nebenstehenden Textseite verbunden: Diese „Doppelseitigkeit“ erinnert zwar vom Prinzip her an das gebundene Buch, lässt aber in der Leporelloform ein rhythmisches Wechselspiel von Bild und Text entstehen.
Die ausführlichen Texte zu den einzelnen Beiträgen des Leporellos finden Sie hier:
Eine Fliege verirrt sich zu Pfingsten | Den Teufel im Nacken? | MNS – ein neuartiges Modeaccessoire | Stadt der Menschen – Stadt der Dinge | Lieferdienste | Schwimmhilfen