Nun, da die Tage wieder länger werden, die Sonne an Kraft gewinnt und der erwachende Frühling sich jeden Tag deutlicher bemerkbar macht, zieht es Viele in die Natur. Wintermantel, Eislaufschuhe und Skier werden durch Wanderschuhe, Rucksack und Outdoorkleidung ausgetauscht. Ob die Wanderhose nach den Weihnachtsfeiertagen und der mangelnden Bewegung im Winter noch passt?
Die Möglichkeit am Wochenende zwei Tage Auszeit von einer anstrengenden Arbeitswoche zu nehmen und sich bei einem Spaziergang oder einer Wanderung zu erholen, sollte heute nicht mehr als Luxus betrachtet werden. Vielmehr stellt sie eine notwendige Erholungsphase und Teil des Wochenarbeitsrhythmus dar und sollte daher bewusst in Anspruch genommen werden können.
In vormoderner Zeit, als die Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebte, gab es dagegen nur wenige Gelegenheiten für Entspannung und Abwechslung vom arbeitsreichen Alltag. Eine dieser wenigen Möglichkeiten boten Wallfahrten zu nahen oder entfernter gelegenen Kultstätten. Damit konnte man/frau nicht nur himmlische Hilfe in Nöten und Anliegen erbitten, sondern zugleich in geselliger Umgebung Abwechslung von der Alltäglichkeit erfahren, neue Bekanntschaften schließen und den neuesten Dorftratsch austauschen (Hersche 2006, 818).
Ein laufendes Projekt am IMAREAL – Religiöse ‚Wearables‘ als materielle Zeugen neuzeitlicher Mobilität (17./18. Jahrhundert) – widmet sich dem Thema Wallfahren im 17./18. Jahrhundert in Niederösterreich. Ausgehend von den am ehemaligen St. Pöltner Stadtfriedhof (Ausgrabungen Domplatz) gefundenen Wallfahrtsmedaillen wird untersucht, wohin die Stadtbevölkerung pilgerte, welche Ziele sie bevorzugte und wie weit sie eine Pilgerreise überhaupt führen konnte.
Das mit Abstand beliebteste Ziel war, den Medaillen zufolge, der bis heute prominenteste Wallfahrtsort Österreichs – Mariazell. Eine Vielzahl von Medaillen tragen das Bild der hier verehrten Marienstatue – eine Sitzmadonna mit dem Jesuskind aus dem 13. Jahrhundert –, deren eigentliches Aussehen durch ihren überreichen Schmuck und Behang weitgehend überformt ist.
Auf der Rückseite der Mariazeller Wallfahrtsmedaillen findet sich sehr oft eine in den Apokryphen überlieferte Szene, die auf den ersten Blick eine idyllische Wanderszene einer Familie mit Kind darzustellen scheint. Tatsächlich hat es aber die Rückkehr aus einer Flucht zum Inhalt. Es zeigt ein Elternpaar, das sein Kind an den Händen führt und sich ihm zuwendet. Die Eltern sind Maria und Josef, das Kind ist der kleine Jesus, über dem der Heilige Geist in Form der Taube und darüber Gottvater schwebt. Die Heilige Familie unterwegs auf Reisen, beschützt von den höchsten himmlischen Mächten – so scheint es.
Das Motiv der aus dem Exil in Ägypten zurückkehrenden Heiligen Familie ist seit dem 14. Jahrhundert bekannt und wurde später, im Zuge der Gegenreformation, umgedeutet. Der Heilige Geist und Gottvater kamen hinzu und in dem zentral dargestellten Jesuskind wurde eine irdische Trinität aus Jesus, Maria, Josef gesehen, die sich mit der himmlischen Dreifaltigkeit – Gottvater, Heiliger Geist, Jesus – verband. Dies war zumindest die theologische Grundlage dieses vor allem von den Jesuiten und Kapuzinern geförderten Kultes (Fassbinder 2003, 322–323).
Warum diese Szene so häufig auf Mariazeller Wallfahrtsmedaillen aufscheint und ob für die einfachen Gläubigen diese Vorstellungen ebenfalls im Vordergrund standen, ist unbekannt. Die Koppelung der wandernden Familie mit dem Wallfahrtsziel Mariazell erweckt doch eher den Eindruck, dass der beschwerliche Fußmarsch und das gemeinsame Gehen als Familie im Vordergrund standen. War die Familie zuhause geblieben, erbaten die Wallfahrer*innen vielleicht den Segen für die Daheimgebliebenen von Gott selbst, und, als zusätzliche Absicherung, jenen der Mariazeller Muttergottes? Als Wallfahrtsandenken stand aber vielleicht auch der Schutz auf dem beschwerlichen Fußmarsch im Vordergrund, ähnlich den heutigen Christophorus-Bildern, die – gemessen am Angebot in den Devotionalienläden – die Heilige Familie mittlerweile fast vollständig verdrängt haben.
Literatur
Fassbinder 2003: Stefan Fassbinder, Wallfahrt, Andacht und Magie. Religiöse Anhänger und Medaillen. Beiträge zur neuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte Südwestdeutschlands aus archäologischer Sicht. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 16. Bonn 2003.
Hersche 2006: Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Freiburg-Basel-Wien 2006.