Am Montag, den 11. November 2019, fand an der FH St. Pölten der zweite Workshop des Projekts „Mobile Dinge, Menschen und Ideen. Eine bewegte Geschichte Niederösterreichs“ statt. Das Verbundprojekt untersucht in sechs Themenbereichen vom Frühneolithikum bis zu den Migrationsströmen des Jahres 2015, welche Funktionen und Bedeutungen Dingen im Kontext von Mobilität zugeordnet werden bzw. welche Rolle Mobilität in all ihren Erscheinungsformen für die Formation und den Wandel von Materieller Kultur spielen kann: https://www.mobiledinge.at/. Das IMAREAL ist dabei mit dem Themenbereich ‚Religiöse Wearables‘ als materielle Zeugen neuzeitlicher Mobilität vertreten: https://www.imareal.sbg.ac.at/projekte/religioese-wearables/.
Einladung externer Partner
Zum Workshop waren zwei externe Projektpartner aus Deutschland eingeladen: Prof. Hans Peter Hahn (Institut für Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Friedemann Yi-Neumann (Universität Göttingen, Forschungsverbund „Materialität von Flucht und Migration“). Zur Vorbereitung des Workshops wurden zum einen verschiedene methodische Texte, die sich mit Objektbiographien und „object itineraries“ befassen, ausgeschickt, um auf dieser Basis gemeinsam diskutieren zu können. Zum anderen erfolgte vorab die Übermittlung eines Fragenkataloges, der sich damit beschäftigte, wie und in welcher Form „Mobilität“ in Zusammenhang mit Dingen in den jeweiligen Forschungskontexten wahrnehmbar wird und welche Mensch-Ding-Beziehungen in welchen Mobilitätskontexten zur Interpretation stehen.
Werkstattberichte aus den Teilbereichen
Am Vormittag wurde zunächst im Rahmen von Werkstattberichten der aktuelle Stand der Forschungen in den sechs Teilbereichen vorgestellt. Im Rahmen des Themenbereichs II zu den religiösen „Wearables“ präsentierte Sarah Pichlkastner, die Historikerin im interdisziplinären IMAREAL-Projektteam, das Konzept des Themenbereichs sowie erste Zwischenergebnisse der Quellenarbeit.
Inputs der externen Partner und Diskussion
Der Nachmittag des Workshops wurde dafür genutzt, über Theorien und methodische Herausforderungen in der Beschäftigung mit Materieller Kultur und Mobilität zu diskutieren. In diesem Zusammenhang gab es zwei Inputs unserer externen Projektpartner. Hans Peter Hahn warnte uns davor, die von uns an Dingen identifizierte „Mobilität“ für die zeitgenössische Bedeutung der mit ihnen verbundenen Menschen weder über- noch unterzubewerten. Er riet dazu, stärker auf die Situation des Bedeutungszusammenhangs zu achten, da Funktionen und Bedeutungen fluide sind. Hinsichtlich der „Multivokalität der Dinge“ forderte er uns dazu auf, unsere Deutungen nicht zu eng zu führen, sondern alternative Erzählungen mit in Betracht zu ziehen. Zudem plädierte Hans Peter Hahn für die Verwendung des Konzepts der „object itineraries“, dem er gegenüber dem Konzept der Objektbiographien den Vorzug gibt. Er argumentierte unter anderem mit der Herkunft des Begriffs aus dem Kontext der Pilgerschaft, während der Menschen von einer äußeren Macht geleitet werden und sich durch den Weg verändern. Diese Metapher ließe sich besser auf mobile Dinge übertragen als jene der Biographie, die einen eindeutigen Beginn und ein eindeutiges Ende besitze. Hierüber entspannte sich eine lebhafte Diskussion, in der zahlreiche Pro- und Kontraargumente hinsichtlich der beiden Metaphern vorgebracht wurden. Friedemann Yi-Neumann brachte aus seiner konkreten Forschungsarbeit mit Migrant*innen zwei weitere Aspekte ein: Am Beispiel eines Armreifs, den eine Migrantin dem Forscher für die museale Nutzung überließ, wurde uns nochmals die Unsicherheit in der Bewertung von Dingen durch ihre Besitzer*innen und ihre situativ schwankende Wahrnehmung vor Augen geführt: https://materialitaet-migration.de/objekte/zahras-armreif/ . Der zweite Aspekt betraf den Verlust von Dingen auf der Flucht sowie im Kontext des Asylwerberstatus und die damit verbundenen sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen und Konsequenzen, die von akuten Überlebensfragen bis zur bitteren Erfahrung gestohlener Lebenszeit reichen: https://materialitaet-migration.de/objekte/gestohlene-lebenszeit/
Fazit und Ausblick
Wir nahmen von diesem Workshop mit, dass die Achtsamkeit auf die Polysemie der Dinge mit dem Fokus auf ihre jeweilige situative Wahrnehmung und Bewertung unabdingbar für unsere Arbeit ist. Gleiches gilt für die Frage nach dem „Politischen“ in der Frage von Mobilität und Materieller Kultur, d.h. nach der Ungleichheit der Verfügbarkeit und der eigenen Handlungsreichweite. Die positive Verunsicherung, die wir aus dem intensiven Austausch auf theoretischer und methodischer Ebene erfahren haben, wird sicherlich unsere Arbeit im Gesamtprojekt und in den einzelnen Themenbereichen befruchten. Dafür danken wir unseren externen Partnern herzlich!