In der Basler Kunstkammer des Bonifacius Amerbach (1495–1562) befand sich ein kleines, knapp sechs Zentimeter breites Objekt, auf dessen Schauseite ein Einhorn eingeschnitzt ist (Abb. 1 und 2). Obwohl inzwischen zwei Beine ausgebrochen sind, zeigt es sich uns bewegt, animiert und detailgetreu samt gelockter Mähne, gespaltenem Huf, gedrehtem Horn und Genital. Das Tier ist vollplastisch herausgearbeitet, indem der Künstler unten in den Materialblock einen Absatz herausgeschnitzt hat, der die Hinterschneidung fast des ganzen Körpers erlaubt. Verbunden ist dieser Körper mit dem restlichen Stück lediglich durch die Hufe, durch das typische, in sich gedrehte Stirnhorn sowie durch den zu den Bäumen aufwirbelnden Schweif, mit deren Laubwerk letzterer eine Art Symbiose eingeht. Je nach Lichtwirkung scheint das Einhorn eine vom Grund unabhhängige Existenz zu haben und bewegt sich eher vor als in dem Stück.
Amerbach selbst schrieb in einem Inventar von 1552 zu dem von ihm hoch geschätzten Werk, das wohl um 1500 gefertigt wurde: „Item ein einhorn in einem Einhorn. Kost X batzen.“ In seinem Testament (1582) findet sich die Formulierung: „Ein einhorn in einhorn geschnitten“, die sein Sohn Basilius wie folgt abänderte: „Ein einhorn geschnitten in ein horn, weis nit ob ich sagen sol, einhorn“ (Inventar 1585-87)*. Man hat daraus geschlossen, dass Bonifacius – im Gegensatz zu seinem Sohn – das Material als das Horn eines Einhorns identifizierte, somit an die natürliche Existenz von Einhörnern glaubte und die u.a. aus Grönland stammenden Stoßzähne des männlichen Narwals (Abb. 3), von denen er im Kirchenschatz von S. Marco in Venedig vollständige Exemplare gesehen hatte, tatsächlich für Hörner des Einhorns hielt. Es spricht jedoch einiges dafür, dass die Modifikation der Formulierung in den Schriftquellen nicht in unterschiedlichem Wissen begründet ist, sondern vielmehr durch divergierende Interessen an dem Objekt und eine hieraus resultierende unterschiedliche Aspektivierung des Materials durch Vater und Sohn.
Die Kulturgeschichte des Einhorns reicht bis in die Antike zurück; so wird das fiktive Wildtier bereits in der Historia Naturalis des Plinius (um 79 n. Chr.) als „unicornis“ benannt. Im Christentum erlangt es mariologische Bedeutung, da es sich dem Physiologus (2. Jh.) zufolge nur von einer Jungfrau zähmen lässt (Abb. 4). In den Kirchenschätzen und später in den frühneuzeitlichen Kunstsammlungen wurden die gedrehten, durchschnittlich zwei Meter langen Stosszähne des Narwals als vermeintliche Hörner des Einhorns gesammelt. Auf Handelswegen mit mehreren Umschlagstationen gelangten sie aus Grönland nach Europa und brachten um 1200 das zigfache ihres Gewichtes an Gold ein. Die Darstellungen des Einhorns in Malerei und Skulptur zeigen in ihrer Mehrzahl seit dem späteren Mittelalter das Horn in der Form und oft auch in den Dimensionen des Narwalzahns. Das Pulver des Zahns/Horns wurde als antitoxische Medizin eingesetzt, und noch bis in das 17. Jahrhundert fertigte man Trinkgefäße aus Narwalzahn, die als giftneutralisierend galten. Nach 1400 brach der grönländische Handel ein, was den Bestand verknappte.
Um 1500, als das Einhornrelief gefertigt wurde, war die Verfügbarkeit des Materials somit erheblich beschränkt. Der Künstler behalf sich mit Walrosszahn, dessen Bestand in Europa durch den Einbruch des grönländischen Handels zwar ebenfalls zurückging, jedoch nicht den gleichen Wert hatte. Besonders helles und farblich homogenes Walrossdentin wurde wie Elfenbein verwendet, doch für ein Mimicking des Einhorns/Narwalzahns war gerade das farblich heterogene, vom Hellen ins Dunkle changierende (billigere) Walrossdentin geeignet. Der Künstler erhöhte die Illusion, indem er auf die Rückseite Rillen einschnitt, die an den gedrehten Stoßzahn erinnerten. Durch die Verjüngung des Werks von rechts nach links (Rückseite Abb. 2) konnte somit der Eindruck entstehen, das Stück sei aus der schmaleren Spitze eines Narwalzahns/Einhorns geschnitten worden.
Aus welchem Material nun besteht das Objekt? Aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht und einem eindeutigen Ergebnis biochemischer Analysen zufolge gibt es nur eine richtige Antwort: aus dem Dentin des Walrosses. In der kulturwissenschaftlichen Perspektive gelten andere Bedingungen. Für Bonifacius und für seinen Sohn bestand das Objekt aus Narwalzahn, wobei Bonifacius Letzteren der Wissenstradierung zufolge und aus einem bestimmten Interesse heraus als Horn eines Einhorns klassifizierte. Die Formulierung: „Das Einhorn in einem Einhorn“ macht deutlich, dass es Bonifacius um das nahezu Spielerische der künstlerischen Strategie ging, das (unsichtbare) Tier als Bild in seinem identitätsgebenden ‚Eigenmaterial’ sichtbar zu machen. Gleichzeitig zeigt die Darstellung des Tiers das Material an und macht es als Horn eines Einhorns plausibel. Damit ist nicht gesagt, dass Bonifacius wirklich an die natürliche Existenz der Einhörner glaubte. Entscheidend ist, dass man die real rezipierbaren Stosszähne nach Gattung und Begriff zu dieser Zeit keinem anderen Tier zuordnen konnte. Der Stoßzahn war ‚ein Einhorn’ – unabhängig davon, ob man das Tier für mythisch oder real hielt. Sein Sohn Basilius hingegen sah weniger den Kunstwert, das Concetto des Werks oder auch seinen epistemlogischen ‚Anschauungswert’, sondern suchte nach der tatsächlich inventarrelevanten Materialangabe (horn) und machte so die konfligierenden Wissenssysteme deutlich. Es gab für ihn keinen Anlass, sich bezüglich des gedrehten horn eines Tieres, von dem er nichts wusste und dessen Aussehen er nicht kannte, auf die mythische Besetzung des Materials festzulegen. („Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, Einhorn“).
Auch wenn man im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nicht von einer realen, natürlichen Existenz von Einhörnern ausging, so gehörten sie dennoch zum theologischen und enzyklopädischen Wissensbestand, dessen haptische und anschauliche, quasiempirische Plausibilität der Narwalzähne ja gerade deswegen steigern konnte, weil der Narwal selbst weder seinem Aussehen, noch seiner Art, noch seinem Habitat nach bekannt war. So besteht das Objekt tatsächlich je nach Aspektivierung aus dem Horn eines Einhorns, aus einem Narwalzahn, oder aus einem Walrosszahn: Wir verstehen seine kunst- und kulturgeschichtliche, sogar seine epistemologische Bedeutung nur, wenn wir das Material auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive klassifizieren.
*Zu den Inventaren des Amerbach-Kabinetts siehe Landolt, Elisabeth. „Das Amerbach-Kabinett und seine Inventare.“ In Sammeln in der Renaissance: Das Amerbach-Kabinett. Beiträge zu Basilius Amerbach, Ausst.Kat. Basel 1991, 73 – 206.