In einem Fernsehspot werden die Herkulesaufgaben gezeigt, mit denen sich ein Babyelefant in Zeiten einer Pandemie herumschlagen muss – mit aller Kraft schiebt der Kleine im Plüschkostüm die Erwachsenen auseinander, um auf den nötigen Abstand zwischen Menschen hinzuweisen. Ganz anders dagegen die Tätigkeit unseres Protagonisten einer Miniatur aus dem Codex 2773 der Österreichischen Nationalbibliothek (REALonline 006370A): Der Greis links im Bild versucht hier, eine junge Frau näher zu dem neben ihr sitzenden jungen Mann zu schieben.
Es handelt sich dabei um Medea und Jason, zwei zentrale Figuren der Argonautensage, die in dieser extensiv bebilderten Handschrift die „Vorgeschichte“ zum Trojanischen Krieg bildet, wie das in mittelalterlichen Adaptionen des Trojaromans gängig war. Neben der Geste des Alten und den ineinander gelegten Händen des heimlichen Liebespaars sind auch einige der dargestellten Objekte im Bild maßgeblich daran beteiligt, dass wir dieses „Social Approaching“ als solches wahrnehmen können. Zum einen ist es die lange Bank, die sich, vom Miniaturrahmen überschnitten, über denselben hinaus nach links und rechts fortzusetzen scheint. Durch diesen Spielraum wird Betrachter*innen die Nähe der jungen Menschen deutlicher bewusst – sie könnten auch am jeweiligen Ende des Möbelstücks platziert sein. Auch das offenbar gemeinsam genutzte orange Kissen und das vor der Wand angebrachte dekorative Tuch bilden eine visuelle Klammer für die beiden edel gekleideten Figuren.
Die Szene ereignet sich im Palast von König Aietes, nachdem Jason die Bewährungsproben zur Erringung des Goldenen Vlieses bestanden hat und im Besitz des kostbaren Schatzes nach Kolchis zurückgekehrt ist. Der Text – eine wortwörtliche deutsche Übersetzung der 1287 fertiggestellten Historia destructionis Troiae des Sizilianers Guido de Columnis – berichtet, dass Medea auf Anweisung ihres Vaters Aietes neben Jason Platz nimmt. Der klein gewachsene Greis mit kurz geschorenen Haaren und grauer Kutte, der durch die geschlossenen Augen und den Stock als sehbehindert ausgewiesen ist, ist nicht Aietes – wie der Vergleich mit seiner Darstellung in anderen Miniaturen der Handschrift, beispielsweise dem vorhergehenden Bild auf derselben Seite, zeigt. Bei der Erfindung des Illuminators bzw. des Entwerfers des Bildprogramms handelt es sich offensichtlich um einen Außenseiter in der höfischen Gesellschaft. Auch die Bildlegende am unteren Seitenrand vermeldet nur: „(H)ie sitzt Medea aber bei dem Jasone“, ohne jedoch über die Figur des Alten aufzuklären.
Möglicherweise stellt der Greis einen Hofnarren dar (Hranitzky 2007, 69), wofür auch seine Kapuze spricht. Wenn an dieser etwas angenäht ist – wonach es aussieht –, so handelt es sich dabei vermutlich nicht – wie im eingangs erwähnten Werbespot – um Elefantenohren, sondern um Eselsohren. Ein Narr, der seine Narrenkappe mit Eselsohren und Schelle aufgesetzt hat, findet sich auf fol. 62r derselben Handschrift (REALonline 006401): Ebenfalls mit einer eselsgrauen Kutte bekleidet, sitzt er auf einem Pferd, das gerade ausschlägt. Er trägt einen Rosenzweig in der Hand und einen Kranz aus Rosen auf dem Kopf, ein Affe klammert sich an seinen Rücken.
Der Narr ist am Rand einer ausgelassenen berittenen Gesellschaft dargestellt, die zur „kirweich der gótin Veneris“ (so die Bildlegende) auf Kythera unterwegs ist – in ihrer Mitte Königin Helena, die sich erhofft, dort Paris zu treffen. Die Miniatur geht mit einer Textpassage einher, in der Guido Helena impulsgeleitetes Verlangen vorwirft und öffentliche Festivitäten mit den dort angebotenen Spielen und insbesondere den Tänzen verurteilt, weil junge Männer und Frauen so zur Sünde verleitet würden. Der Narr als moralisch verwerfliche Figur deckt die „Lasterhaftigkeit“ Helenas und der jungen Leute, deren „Social Approaching“ sich (hoch zu Roß!) in einem innigen Arm-in-Arm manifestiert, gewissermaßen bildlich auf (vgl. Hranitzky 2012, 109–110). Mit seinem ausschlagenden Pferd nimmt er noch dazu auf Metapher des Pferdezähmens im Text Bezug („du móchtest dich durch den zúgel eines leichten zaumes zémen“).
In einer vergleichbaren entlarvenden Kommentarfunktion wird auch der Greis bzw. Hofnarr zu sehen sein, der Medea zu Jason hinschiebt, und der auch als sehbehinderte Person gemäß der im mittelalterlichen christlichen Westen gängigen Auffassung (Blindheit als äußeres Zeichen von Sünde und mangelnder Einsicht sowie fehlendem Glauben) grundsätzlich negativ konnotiert ist. Moralisch zu kommentieren gibt es gemäß Guidos Text viel: Medeas Maßlosigkeit und Sündhaftigkeit, ihre blinde Passion für Jason und die mit ihm eingegangene Verbindung, die letztlich tragisch enden wird.
Gut ausgegangen ist ganz im Gegensatz dazu die Annäherung zwischen den beiden Disziplinen Kunstgeschichte und Germanistik, die das Projekt ONAMA (Ontology of Narratives of the Middle Ages) mit sich brachte. Im Zuge der von der ÖAW go!digital geförderten Kooperation von Mittelhochdeutscher Begriffsdatenbank und der Bilddatenbank des IMAREAL REALonline (beide IZMF, Univ. Salzburg) wurde eine Ontologie entwickelt, die eine medienübergreifende Analyse von Narrativen erlaubt. Als Narrative werden in ONAMA Figurenaktivitäten, Ereignisse oder Zustandsänderungen verstanden. Erfasst werden zwei Typen: allgemeine medienunabhängige Narrativ-Konzepte einerseits und konkrete Narrativ-Realisierungen in bestimmten Texten oder Kunstwerken andererseits. Jedes Konzept bzw. jede Realisierung beinhaltet neben einer Handlung weitere Bausteine (Figuren, Dinge, Orte etc.), die eine bestimmte Rolle (Agens, Besitzer*in, Rezipient*in, Lokalisierung etc.) einnehmen. Durch diese Art der Erfassung narrativer Inhalte können Muster und Unterschiede der Erzählungen innerhalb eines Mediums, aber auch medienübergreifend herausgestellt werden. Die Daten stehen Wissenschafter*innen für SPARQL-Abfragen zur Verfügung, können aber auch in einem im Zuge des Projekts entwickelten generischen RDF-Browser genutzt werden. Wer also Interesse hat, zu sehen, in welchen Narrativen etwa Bänke vorkommen, oder wo Medea als Wahrnehmende agiert, kann auch das einfach zu nutzende Frontend aufrufen.
Im Zuge des Projekts ONAMA wurden auch die Daten von REALonline semantisch modelliert und können nun als RDF-Daten in Semantic-Web-Abfragen integriert werden.
Nachdem Dinge und ihre Rollen, die sie in Narrativen einnehmen, auch im Projekt ONAMA von Bedeutung sind, hat das Projektteam (Katharina Zeppezauer-Wachauer, Peter Hinkelmanns und Manuel Schwembacher von der MHDBDB sowie Miriam Landkammer und Isabella Nicka vom IMAREAL) ein Themenheft im Online-Journal MEMO initiiert und konzipiert: Die achte Ausgabe des Journals erscheint im Frühjahr 2021 und wird vier Beiträge zur Funktion von Objekten in Erzählungen und zu den (digitalen) Methoden, wie diese untersucht werden können, versammeln. Weiters werden Sophie Marshall, Klaus Speidel und Werner Wolf in Interviews ihre Sicht auf die narratologische Verortung von Dingen, unterschiedliche narratologische Modelle und Narrativdefinitionen sowie die Möglichkeiten und Grenzen einer digitalen Narrativforschung darlegen.
Der am IMAREAL angesiedelte Projektteil von ONAMA wurde mit Ende Februar abgeschlossen. Eng mit dem Thema der medienübergreifenden (digitalen) Analyse mittelalterlicher Narrative verbunden ist aber noch die Tagung “TRANSMEDIAL – DIGITAL? Potenziale aktueller Ansätze in der Forschung zu Bild & Text in der Vormoderne”, die das IMAREAL am 4. und 5. November 2021 in Krems ausrichten wird.
Literatur
Hranitzky, Katharina: Das Bildprogramm. In: Suckale-Redlefsen, Gude; Suckale, Robert (Hg.): Guido de Columnis: Der Trojanische Krieg. Codex 2773 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Kommentarband. Luzern/Gütersloh 2007, S. 65–93.
Hranitzky, Katharina; Pirker-Aurenhammer, Veronika u.a.: Mitteleuropäische Schulen V (ca. 1410–1450): Wien und Niederösterreich. (Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters 1, 14), Textband. Wien 2012, Kat. 15, S. 98–139 (Katharina Hranitzky).